Lassalle und Marx

Das Verhältnis von Lassalle zu Marx ist über die etwa fünfzehn Jahre des Kontaktes zu- und miteinander größeren Veränderungen unterworfen: Im Schüler/Lehrer-Verhältnis bzw. Artikel-Schreiber/Herausgeber-Verhältnis (Neue Rheinische Zeitung) entwickelte sich Lassalle zu einem ebenbürtigen Partner, der von dem sieben Jahre älteren häufig eifersüchtig beobachtet und beurteilt wurde, vor allem seit sich Lassalle auf das Gebiet der Ökonomie gewagt hatte, um sich dort auch zu profilieren. Dass sich Lassalle häufig für Marx einsetzte, so mehrfach mit finanzieller Hilfe und mit dem (fehlgeschlagenen) Versuch, den Staatenlosen wieder in Preußen einbürgern zu lassen, erzeugte in diesem offenbar kein Gefühl von Dankbarkeit.

Köpfe der frühen deutschen Arbeiterbewegung (August Bebel, Wilhelm Liebknecht – obere Reihe, Karl Marx – Mitte, Carl Wilhelm Tölcke, Ferdinand Lassalle – untere Reihe)Ende der 50er Jahre kam es endgültig zu politischen Differenzen, die sich an der Prophezeiung Lassalles entzündete: „So nützlich ein gegen den Willen des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müsste ein von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsere demokratische Entwicklung einwirken.“[16] Und wenig später: „Eine Besiegung Frankreichs wäre auf lange Zeit das konterrevolutionäre Ereignis par excellence. Noch immer steht es so, dass Frankreich, trotz aller Napoleons, Europa gegenüber die Revolution, Frankreichs Besiegung ihre Besiegung darstellt“.[17] Diese Prophezeiung wird dann Jahre nach seinem Tod im Duell eintreten und alle Schichten im nunmehr vereinigten Kaiserreich erfassen. Der Burschenschafter Lassalle wäre vielleicht erstaunt gewesen zu sehen, wie die ehedem radikal-demokratischen Burschenschaften innerhalb zweier Jahrzehnte zum saturierten nationalistischen, großdeutschen Verband mutierten, für den Freiheit im Wesentlichen nur noch Freiheit nach außen bedeutete.

Lassalle wies in dem eben zitierten Brief auf die „Franzosenfresserei“ und den „Franzosenhass“ hin, den die Zeitungen, „die nationale Ader anschlagend, ins Herz der untersten Volksklasse und der demokratischen Kreise zu gießen suchen, und leider mit Erfolg genug.“[18] Frankreich verkörperte für Lassalle die revolutionäre Tradition, und ein Sieg des reaktionären Preußen über  Frankreich war für ihn gleichbedeutend mit einer Niederlage der Revolution. Marx hingegen sah in Napoleon III. den Erzfeind und hing mit Engels der Meinung an, dass eine Vernichtung des französischen Kaiserreichs auch das verhasste absolutistische Zarenreich in den Abgrund reißen und die von ihm favorisierten revolutionären Umstände schaffen würde. Lassalle hat anders als Marx und Engels erkannt, dass die These, Geschichte sei die Geschichte von Klassenkämpfen, dieselbe eben nur teilweise erklären kann. Im Grunde bestand schon damals die Differenz, dass für Marx (und seine ideologischen Nachfahren) von Rechtsaußen bis zum linksliberalen Bürgertum kein nennenswerter Unterschied bestand, während Lassalle durchaus zu differenzieren verstand und partiell den Kontakt zur bürgerlichen Linken suchte.[19]




[16] Lassalle, Brief an Marx und Engels vom 27. 5. 1859, in: Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften, hrsg. von G. Mayer, Bd. 3, Berlin 1922, S. 212; MEGA, Abt. 3, Bd. 9, Berlin 2003, S. 467.

[17] Lassalle, Brief an Marx vom 14. 6. 1859, in: Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften, hrsg. von G. Mayer, Bd. 3, S. 218; MEGA, Abt. 3, Bd. 9, S. 486.

[18] Brief an Marx und Engels vom 27. 5. 1859, S. 212 (wie FN 16).

[19] Zu Lassalles Theorie über den Krieg s. Wette, W., Kriegstheorien deutscher Sozialisten, Stuttgart u.a. 1971, S. 102 – 124.