Dritter Brief

Lieber Axel Bernd,

ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster von Verbindungsstudenten bei der Rechtfertigung ihres Männerbundes ist, dass die Frauen ja auch Damenverbindungen gründen können. Daher sei die Forderung mancher SPD-Teile, dass Männerbünde Frauen zugänglich gemacht werden sollten, hinfällig.

Nun ja, ich halte diese Argumentation für falsch. Heutige Damen- und Herrenverbindungen haben durchaus große Unterschiede, und man kann nachvollziehen warum man als Erstsemester gerne einer hundertfünfzigjährigen Verbindung mit tollem Haus und vielen Alten Herren mit großem Netzwerk beitreten will und nicht einem jungen Bund, der sich in einem Wirtshaus trifft, da er kein Haus hat. Junge Studentinnen haben diese Wahlfreiheit nicht, sie müssen sich mit circa fünfzehn Prozent der Verbindungen begnügen. Das kann man als Sozialdemokrat als ungerecht bezeichnen.

Sigmar Gabriel schrieb vor vier Jahren über die Grundwerte der Partei: „Entscheidend für die SPD aber sind ihre Grundwerte, allen voran Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Wie sie argumentativ begründet und gewichtet werden, ist zwar jedem und jeder Einzelnen überlassen, aber klar ist, dass diese Grundwerte im Kern gleichwertig, gleichrangig und sich einander bedingend sind: ohne Freiheit keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit keine Solidarität.“

Welche Freiheit meint Sigmar? Ich denke, er meint unter anderem die Wahlfreiheit, das heißt auch: die freie Wahl, einem Verein beizutreten zu können, zu dem ich gerne zugehören will (das heißt ja nicht, dass dieser mich auch will – es geht nur erst einmal um die theoretische Chance, überhaupt Mitglied zu werden). Fünfundachtzig Prozent der Studentenverbindungen verbieten die Mitgliedschaft von Frauen, ohne das sinnvoll zu begründen. Oft kommt jetzt die Floskel von den Männergesangvereinen und der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF): Beide sind nicht mit Korporationen vergleichbar. Eine Verbindung ist mehr als ein Verein. Verbindungen legen an sich schon den Anspruch (und das zeigen ihre Selbstdarstellungen), eine Rolle in der Gesellschaft inne zu haben, und sich eben nicht ins Private zurückzuziehen (ich rede nicht nur über die politischen Burschenschaften). Daher greift ein alleiniges Zurückgreifen auf das Vereinsrecht aus einer SPD-politischen Sicht zu kurz. Die SPD hat an sich den Anspruch, gesellschaftliche Spieler nicht nur formal-juristisch und normativ zu beurteilen, sondern auch politisch.

Nun kommt es auf den Anspruch eines jeden Parteimitglieds beziehungsweise einzelner Gruppierungen an. Findet er oder sie die akademische Welt ungerecht? Gibt es gesellschaftliche Defizite, die die SPD dort lösen soll? Soll die SPD an Universitätsorten für Studentinnen gleiche Zugangsoptionen zu billigem Wohnraum und guten Karrierenetzwerken via Korporationen fordern? Ist das Teil der politischen Agenda der SPD oder ist es ein übertriebener Eingriff in das Vereinsrecht und das Recht auf freie Vergemeinschaftung? Ich kann nachvollziehen, wenn es Juso-Gruppen gibt, die Forderungen dieser Art in ihr Programm aufnehmen.

Du schreibst: „In einer freiheitlichen Gesellschaft besteht ein Recht auf freie Vergemeinschaftung“ oder „Gerechtigkeit lässt sich nur im komplementären Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit verwirklichen“.

Die meisten großen Verbindungen beziehungsweise Korporationen mit gutem Netzwerk wurden im neunzehnten Jahrhundert gestiftet, das heißt zu einer Zeit,  in der es bei der Frauenfrage keine freiheitliche Gesellschaft gab (was SPD-Granden wie Bebel sehr beschäftigte) und in der dieser Zustand gerade im akademischen Milieu zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit führte. Es gab damals kein „oder“ bei „Männer- oder Damenverbindungen“. Auch wenn der Zugang von Frauen zum Studium damals keine zentrale SPD-Forderung war (da nicht Kerngeschäft), kann man diese Forderung sehr wohl als zutiefst sozialdemokratisch bewerten. Noch heute zehren die meisten Bünde von diesem „Startvorteil“, schließlich folgten heutige Damenverbindungen vor fünfunddreißig Jahren, also circa hundert bis hundertfünfzig Jahre später. Da dieser Vorteil also aufgrund einer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit entstanden ist, ist eine SPD-Politik doch nachvollzierbar, die nun eine Korrektur oder Wiedergutmachung fordert.

Du führst an, dass eine „egalitaristischen Auslegung von Gerechtigkeit“ zum Problem werden könne. Meinst Du damit die Chancengleichheit? Insbesondere die Chancengleichheit war und ist in der SPD ein wichtiges politisches Motiv. Warum sollte man Frauen nicht die Chance geben, sich in einen bisherigen Männerbund zu integrieren? Oder meinst Du, man müsse historisch gewachsene Ungerechtigkeit, wie die Nichtzulassung weiblicher Studenten vor 1900, akzeptieren?

Vielleicht verstehe ich Dein „Gerechtigkeit wird heute vielfach einseitig egalitaristisch verstanden und mit Gleichheit in eins gesetzt – auch in der SPD“ nicht vollumfänglich. Für mich ist es sozialdemokratische Politik, Frauen gleiche Chancen zu ermöglichen. Das heißt, sie müssten aus sozialdemokratischer Sicht zumindest die Chance haben, jeder Verbindung beizutreten, der sie wollen. Es kann doch nicht sein, dass man die Hälfte der Menschheit qua Geburt ausschließt. Ungleichheit (durch Geschlecht) darf doch nicht automatisch die Freiheit einschränken, oder? Das ist nicht gerecht.

Ich glaube aber im gleichen Atemzug, dass sich das Interesse der Damenwelt an schlagenden, saufenden und kotzenden Bünden eher in Grenzen halten würde und dass sich schnell herausstellt, dass das Netzwerk klein und der elitäre Dünkel eher Fassade ist. Meine Beobachtungen lassen mich annehmen, dass das Bild, welches in SPD-Kreisen über Korporationen gepflegt wird (mit all den Vorwürfen), revidiert werden muss. Die Macht und der Einfluss von Verbindungen werden sehr überschätzt. Mittlerweile gibt es bessere und professionellere Netzwerke – viele Firmen arbeiten mit von Frauen geführten HR-Abteilungen und computergestützten Analysen. Vitamin B ist nur noch „Homöopathie“ und reicht allermeist nur für ein Praktikum.

Nach wie vor suche ich Antworten auf die Frage, warum sich viele Bünde bis heute sträuben, Frauen aufzunehmen. Ist es Protektionismus? Welche Angst haben sie? Welche Nachteile überwiegen die Vorteile?

Wird es in den kommenden Jahrzehnten weitere gesellschaftliche Entwicklungen geben, die Frauen einen besseren Zugang zu Macht ermöglichen (Stichwort Frauenquote, bessere Karrieren durch bessere Kinderbetreuung), sodass sich das Netzwerkmodell von Verbindungen zwangsläufig geschlechterhomogen aufstellen muss? Sind Männerbünde in Zeiten von Facebook und weiblichen Vorgesetzen zukunftsfähig beziehungsweise attraktiv?

 

Ich freue mich auf Deine Rückmeldung,

mit besten Grüßen

Florian Z!